Die wissenschaftliche Frage und Forschungsmethode

Wie und warum bewegen sich Bevölkerungsgruppen fort und wie interagieren Neuankömmlinge mit den lokalen Gemeinschaften? Wie spiegeln sich Bevölkerungsbewegungen in der materiellen Kultur wider?” “Gibt es eine Beziehung zwischen Geschwindigkeit und Eigenschaft des Wechsels der materiellen Kultur und der Bevölkerungsgrösse? Wie formen Bevölkerungsbeziehungen und Wechsel materieller Kultur Geschlechterrollen und allgemeine sozioökonomische Ungleichheit?

Ausbreitung der Landwirtschaft in West-Eurasien – Credit: D. Gronenborn, M. Ober | RGZM

NEOMATRIX ist ein kollaboratives Forschungsprojekt, das darauf abzielt, die am klarsten gegliede Karte der neolithischen Verbreitung im Mittelmeerraum zu zeichnen. Diese Verbreitung ging vor ca. 8000 Jahren von Anatolien bzw der Ägäischen Region aus, und erreichte über Griechenland West-Europa. Die Partner werden Archäogenomik und Archäologie unter sozialwissenschaftlichen Aspekten integrieren, um Fragen über soziale und kulturelle Wechselbeziehungen zu beantworten, die zur Zeit von Bevölkerungsbewegungen stattfinden. Dieser Ansatz soll ein neues Licht auf oben genannten Fragen werfen, deren Antworten sich nicht nur auf die Vorgeschichte, sondern auch auf strukturelle Probleme heutiger Gesellschaften beziehen.

Die Geschwindigkeit der Verbreitung der neolithischen Kultur wird seit langem über die archäologische materielle Kultur studiert. Dieser Ansatz geht allerdings davon aus, dass es sich um eine einzelne, homogene Bevölkerung handelte, die bald darauf verschiedene materielle Kulturen entwickelte. Auch wenn das im Grossen und Ganzen richtig sein mag, so haben doch archäologische und archäogenetische Daten eine tiefgehende Untersuchung dieser Prozesse, die lokale und globale Reichweite vereint, bis jetzt nicht ermöglicht. Der Vergleich von genomischen Profilen von Individuen verschiedener neolithischer Siedlungen des Mittelmeerraums mit solchen aus nicht-neolithischen archäologischen Fundstellen wird uns mehr darueber lehren, wie schnell diese Poulationen sich fortbewegten und wie stark sie sich mit der lokalen Bevölkerung vermischten. Indem wir diese genomischen Daten mit verschiedenen Isotopen-Signaturen kombinieren, die von denselben Individuen erhoben werden, deren aDNA auch analysiert wurde, werden wir eine mehr ganzheitliche Charakterisierung von Populationen und sowohl eine höhere als auch eine niedrigere Auflösung erzielen. Dieser synthetische Ansatz wird es uns erlauben, Fragen wie die oben gestellten zu beantworten und mögliche Korrelierungen zwischen genetischer und kultureller Abweichung zu testen, die diktiert sein könnten vom verzerrenden Effekt der Populationsgrösse, der sich auf beide Phänomene auswirken könnte.

Die Resultate, die von den Partnern unabhängig von einander produziert werden, sowie die publizierten Datensätze werden anschliessend kombiniert und von allen Partnern zusammen analysiert. Während die METU-Gruppe den Beginn der Neolithisierung studiert, analysiert das CNRS-IJM Paläogenomik-Labor den Endpunkt der neolithischen Migration in Frankreich. Bereits von der METU-Gruppe produzierte vorneolithische und neolithische genomische Daten von Schafen und Ziegen von Anatolien und Griechenland, sollen erweitert und angereichert werden mit genomischen Daten von Schafen und Ziegen anderer europäischer Regionen. Diese sollen von allen Partnern im Rahmen des NEOMATRIX Projektes produziert werden, hauptsächlich während des Kreuz-Laborbesuches beim IJM-CNRS in Paris, und werden eine weitere wichtige Komponente zum sogenannte “Neolithischen Paket” beisteuern.  Das Konsortium wird daher eine dynamische Version des “Neolithischen Pakets” beschreiben, die nicht ein unveränderlicher Satz von materiellen kulturellen Elementen und domestizierten Tieren ist, sondern ein Satz von Elementen, die weiterentwickelt wurden, verschwunden und dann während des Verbreitungsprozesses wieder aufgetaucht sind. Ausgestattet mit dieser Information, werden wir die Wechseldynamik von materieller Kulture und Demographie in bislang unerreichter Genauigkeit studieren können.

Das Forschungsprojekt, das NEOMATRIX antreibt, beinhaltet sowohl Standard-Anwendungen in Archäogenomik und Bioarchäologie, als auch experimentelle methodologische Erneuerung. Wir werden aDNA und Istopen-Daten die bereits im Vorfeld des Projektes von menschlichen und tierischen archäologischen Knochen und menschlichen Zähnen erhalten wurden, kombinieren, um Bevölkerungen und Individuen genomisch zu charakterisieren und sowohl Populationsmigrationen als auch Gesellschaftsstrukturen zu rekonstruieren. Durch Zusammenarbeit, gemeinsame Laborbesprechungen als auch gekreuzte Laborbesuche, wird NEOMATRIX auch die Entwicklung von neuen Forschungswerkzeugen fördern, deren Anwendungen über das Projekt hinausgehen werden, sowohl in molekularbiologischen Protokollen, die an die Besonderheiten stark degradierter DNA angepasst sind, einschliesslich offenen Protokollen für wirksame “hybridization capture”, und Optimisierung der Konstruktion von doppel- und einzelsträngigen DNA-Banken. Diese neuen Forschungswerkzeuge werden auch neue bioinformatische Werkzeuge beinhalten, z.B. robuste Ansätze für die Analyse von partiell sequenzierten Genomen, “Approximate Bayesian Computation (ABC)” Methoden für die Demographie-Inferenz, und die Einbringung von “deep learning tools” (Werkzeuge tiefgehenden Lernens) für aDNA Analysen.

Alter DNA ist der Prozess, DNA aus den Knochen von Organismen zu extrahieren, die in der alten Vergangenheit lebten, die DNA-Sequenz zu lesen und sie mit den DNA-Sequenzen anderer Organismen zu vergleichen. Diese genetischen Vergleiche liefern Informationen über die demografische Geschichte von Ereignissen wie Migration, über biologische Verwandtschaftsmuster innerhalb der Gesellschaft und auch über die natürliche Selektion.